4.2.5 Die Kettenregel

Im Allgemeinen bedürfen die Rechenregeln bei der partiellen Differentiation keiner besonderen Diskussion. Die Regeln der gewöhnlichen Differentiation können direkt übertragen werden. So gilt zum Beispiel die Produktregel


Zum Beweis greift man auf die Definition der partiellen Ableitung zurück und wiederholt die Argumentation für die Herleitung der Produktregel bei der gewöhnlichen Differentiation.

Eine Ausnahme, die der Diskussion bedarf, ist die Kettenregel. Infolge der erhöhten Anzahl von Variablen kann die Kettenregel im Fall von Funktionen mit mehreren Veränderlichen einigermaßen komplizierte Formen annehmen. Auf der anderen Seite bietet die größere Auswahl eine Vielfalt von Anwendungsmöglichkeiten.

Ein Beispiel soll die Thematik einführen. Hat man neben einer Funktion die zusätzliche Aussage , und setzt man die Funktionen zusammen, so ergibt sich eine Funktion der Variablen


Interpretiert man (, ) als die Parameterdarstellung einer Kurve in der - Ebene, so stellt die Funktion den über dieser Kurve liegenden `Ausschnitt` aus der Fläche dar (Abb. 4.14).

Abbildung 4.14: Illustration der Kettenregel

Möchte man die gewöhnliche Ableitung (die Tangente an die Raumkurve) durch die partiellen Ableitungen von und die gewöhnlichen Ableitungen von und ausdrücken, so benötigt man die Kettenregel. Deren Herleitung sieht für den vorliegenden Fall folgendermaßen aus:


ist in linearer Näherung


Es gilt außerdem für die Verschiebung entlang der Kurve


Zusammensetzung ergibt im Grenzfall


Dieses Resultat kann zum Beispiel dazu benutzt werden, um die Ableitung von Fuktionen wie oder allgemeiner zu bestimmen. Diese Aufgabe ist mit normalen Methoden gar nicht so einfach zu lösen. Mit der Kettenregel folgt jedoch



für das konkrete Beispiel also


Weitere Varianten, die zu anderen Formen der Kettenregel führen, sind z.B.


Die allgemeine Aufgabenstellung lautet: Gegeben ist sowie für jede Variable . Berechne die Ableitungen der zusammengesetzten Funktion .

Die Herleitung der entsprechenden Formeln basiert[*], wie in dem einführenden Beispiel, auf der Zusammensetzung von totalen Differentialen. Die Ergebnisse bis zur zweiten Ableitung, vorausgesetzt alle auftretenden Ableitungen existieren und sind stetig, lauten



Man muss noch die Verabredung treffen, dass das partielle Differentiationssymbol durch das gewöhnliche zu ersetzen ist, falls nur eine - oder nur eine -Variable auftritt.

Von den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten der Kettenregel soll nur ein Beispiel vorgestellt werden, das in der Physik besonders wichtig ist: Die Umrechnung des Laplaceoperators und des Gradientenoperators in krummlinige Koordinaten.

Schon in der zweidimensionalen Welt erfordert die direkte Antwort einige Schreibarbeit, deswegen werden die expliziten Ausführungen auf diesen Fall beschränkt bleiben. Für eine Funktion von zwei Variablen sind die folgenden Größen von Interesse



Nimmt man an, dass eine zusammengesetzte Funktion ist, z.B.


mit den Funktionen


so kann man die vier Ableitungen nach der Kettenregel berechnen. Man erhält für die ersten Ableitungen



Zu notieren sind die Ableitungen von und



Damit ergibt sich (nach einfacher Sortierung)



Die Darstellung des Gradientenoperators in ebenen Polarkoordinaten kann daraus extrahiert werden



Die Rechnung für den Laplaceoperator ist ein wenig länglicher. Der Ausgangspunkt ist die Kettenregel



Setzt man hier alle benötigten Ableitungen von und ein


so erhält man



Daraus entnimmt man die Form des Laplaceoperators in ebenen Polarkoordinaten



Die Gewinnung entsprechender Formeln für die Umrechnung der zwei Differentialoperatoren von dreidimensionalen kartesischen Koordinaten in Zylinderkoordinaten enthält keine wesentlich neuen Elemente. Die entsprechenden Rechnungen für dreidimensionale kartesischen Koordinaten in Kugelkoordinaten (oder andere krummlinige Koordinaten) sind unter Umständen einigermaßen aufwendig (Ein allgemeiner Zugang wird in Band 2, Math. Kap. 5 erläutert). Diese Formeln werden jedoch in der Physik oft benötigt. Für Kugelkoordinaten ist der Gradientenoperator



der Laplaceoperator



Jeder theoretische Physiker sollte, nach dem angedeuteten Muster, wenigstens die entsprechenden Rechnungen für Kugelkoordinaten durchgeführt haben[*].

Eine abschließende Bemerkung ist vielleicht noch nützlich, um einem häufigen Missverständnis vorzubeugen. Für die Funktion


wird bei Bildung der partiellen Ableitung nach


nur nach der explizit auftretenden Variablen differenziert. Die totale Ableitung von nach ist hingegen


In diesem Fall greift die Kettenregel.


< Mechanik     Mathematische Ergänzungen >       R. Dreizler   C. Lüdde     2008