2.1 Orientierung

In dem zweiten Kapitel des Physiktextes (Buch.Kap. 2) wurden drei relativ einfache Differentialgleichungen betrachtet[*]



Die funktionale Form der Beschleunigung ist jeweils vorgegeben, einmal als Funktion der Zeit, dann als Funktion des Ortes und der Geschwindigkeit. Gesucht werden in allen Fällen die Funktionen und . Da in den drei Bestimmungsgleichungen die Ableitungen der gesuchten Funktionen auftreten, liegen Differentialgleichungen vor. Falls die gesuchte Lösung nur von einer unabhängigen Variablen (hier im Anklang an die Mechanik die Variable ) abhängt, spricht man von gewöhnlichen Differentialgleichungen. Der erste Begriff, der zu erläutern ist, ist der Begriff der Ordnung einer Differentialgleichung:



Somit sind die oben angedeuteten Differentialgleichungen von erster Ordnung für die Funktion (linke Spalte) beziehungsweise von zweiter Ordnung für die Funktion . (Verabredet man, dass in einer Differentialgleichung nur die gesuchte Funktion und deren Ableitungen sowie die unabhängige Variable auftreten sollen, so ist keine echte Differentialgleichung für .)

Die drei einfacheren Fälle sind Spezialfälle der allgemeineren Differentialgleichung zweiter Ordnung für die Funktion


Bezieht man sich auf die Mechanik, so kann die Beschleunigung als Funktion der Zeit, des Ortes und der Geschwindigkeit vorgegeben werden. Explizite Beipiele für die Lösung von allgemeineren Typen von Differentialgleichungen zweiter Ordnung werden erst in Math.Kap. 6.3 vorgestellt.

Die generelle Aussage



kann man direkt illustrieren. Ein vollständiger Beweis wäre langwieriger. Die Aussage `allgemeine Lösung` beinhaltet, dass keine weiteren Bedingungen an die Lösung gestellt werden. Der Begriff Integrationskonstante wird sofort klar werden.

Die Illustration besteht darin, dass man von möglichen Lösungen einer Differentialgleichung, die Konstante enthalten, ausgeht und zeigt, dass die Funktionen in jedem Fall auf eine Differentialgleichung von erster, zweiter, dritter, Ordnung führen. Die Behauptung ergibt sich durch Umkehrung dieser Überlegungen. Die erste Vorgabe lautet


wobei die unabhängige Variable und ein Parameter ist. Für jeden Wert von soll eine eindeutige Kurve in einem - Diagramm vorliegen. Variiert man den Parameter , so erhält man eine Kurvenschar. Beispiele sind:


Abbildung 2.1: Einparametrige Kurvenscharen

Aus den Gleichungen


kann der Parameter eliminiert werden: In beiden Fällen erhält man eine Differentialgleichung erster Ordnung für die Funktion . Das allgemeinere Argument lautet: Löse eine der zwei Gleichungen nach auf


und setze die Auflösung in die jeweils andere Gleichung ein. Das Resultat ist z.B. eine Aussage der Form oder allgemeiner . Dies bezeichnet man als eine implizite Differentialgleichung erster Ordnung.

Aus diesen Überlegungen kann man den Schluss ziehen: Jede einparametrige Kurvenschar wird durch eine Differentialgleichung erster Ordnung charakterisiert. In Umkehrung dieser Aussage kann man auch feststellen: Die allgemeine Lösung einer Differentialgleichung erster Ordnung ist eine einparametrige Kurvenschar. Den Parameter nennt man dann die Integrationskonstante. Einige Beispiele zur weiteren Übung sind:


Kurvenschar Gleichung Differentialgleichung
             
Geradenschar
Parabelschar    
Parabelschar    
Kreisschar  


Die Geraden der Schar verlaufen durch den Koordinatenursprung, die Parabeln der ersten Schar sind parallelverschoben, die der zweiten Schar gehen ebenfalls durch den Koordinatenursprung und unterscheiden sich durch Öffnung und Orientierung (nach oben bzw. nach unten). Die Mittelpunkte der Kreise liegen auf der -Achse und die Kreise berühren sich alle im Koordinatenursprung. Das erste und das dritte Beispiel zeigen, dass eine `geringfügige` Änderung der Differentialgleichung zu einer deutlichen Veränderung des Charakters der Kurvenschar führen kann.

Eine zweiparametrige Kurvenschar wird durch eine Gleichung der Form


mit den Parametern und beschrieben. Ein Beispiel ist die Funktion . Betrachtet man den Fall und variiert , so erhält man ein Büschel von kubischen Parabeln durch den Ursprung des - Diagrammes (Abb. 2.2). Variiert man nun den Parameter , so findet man derartige Büschel durch jeden Punkt der -Achse.


Abbildung 2.2: Die zweiparametrige Kurvenschar

Zur Elimination der zwei Parameter benötigt man nun drei Gleichungen. Diese sind


Die entsprechenden Aussagen für das Beispiel sind


Zur Elimination kann man z.B. die Verhältnisse


bilden und erhält nach einfacher Sortierung die (nicht unbedingt einfache) Differentialgleichung zweiter Ordnung


Die entsprechende allgemeine Diskussion liefert die Aussage: Durch Elimination der beiden Parameter, ausgehend von einer Gleichung der Form , gewinnt man ein implizite Differentialgleichung zweiter Ordnung . Auch hier folgen noch drei Beispiele zur Übung:


Kurvenschar Gleichung Differentialgleichung
             
Geradenschar
Parabel/Geradenschar    
Ellipsenschar


Die Argumentation kann fortgesetzt werden. Am Ende steht die Aussage: Eine -parametrige Kurvenschar wird durch eine Differentialgleichung -ter Ordnung charakterisiert, oder in Umkehrung: Die allgemeine Lösung einer Differentialgleichung -ter Ordnung enthält (Integrations-)konstanten.

Die Kenntnis der allgemeinen Lösung einer Differentialgleichung (geometrisch gesprochen der gesamten Kurvenschar) ist zwar nützlich, in vielen Fällen interessiert jedoch nur eine partikuläre Lösung (eine der Kurven aus der Schar). Zur Auswahl einer Partikulärlösung hat man im Fall einer Differentialgleichung zweiter Ordnung zwei Möglichkeiten.

Es ist jedoch anzumerken, dass nicht jede Vorgabe zur Festlegung einer Partikulärlösung führt. Betrachtet man, der Einfachheit wegen, die Differentialgleichung erster Ordnung mit der Forderung , so stellt man fest, dass alle Lösungen diese Forderung erfüllen. Keine der Lösungen für die durch die Differentialgleichung charakterisierte Kreisschar kann der Bedingung genügen.


Abbildung 2.3: Bestimmung von Partikulärlösungen

In der theoretischen Mechanik stellen Bewegungsprobleme Anfangswertprobleme dar: Position und Geschwindigkeit sind zu einem bestimmten Zeitpunkt (der Anfangszeit) vorgegeben. Randwertprobleme treten in der Mechanik z.B. auf, wenn man die Schwingungen (die ` Eigenschwingungen` ) einer eingespannten Saite diskutiert. Da die Variablen in diesem Fall Auslenkung als Funktion von Zeit und Position entlang der Saite (also zwei unabhängige Variable) sind, steht eine partielle Differentialgleichung zur Diskussion, die erst im Zusammenhang mit dem Thema Elektrodynamik (Band 2) eingehender diskutiert wird.

Bevor man, im nächsten Abschnitt, die Frage nach Lösungsmethoden für Differentialgleichungen aufgreift, müsste man der Frage nachgehen: Welchen Anforderungen muss eine Differentialgleichung genügen, damit sicher gestellt werden kann, dass eine Lösung existiert und dass diese Lösung eindeutig ist? Konkret, für die explizite Differentialgleichung zweiter Ordnung würde man fragen, welchen Anforderungen muss die Funktion genügen, damit Existenz und Eindeutigkeit der Lösung garantiert werden kann? Zur Beantwortung dieser Fragen wird auf die einschlägige mathematische Literatur verwiesen. Zu betonen ist jedoch, dass die Frage nach Bedingungen für die Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen keine müßige Übung ist. Bevor man sich um die explizite Lösung einer etwas schwierigeren Differentialgleichung bemüht, ist es beruhigend zu wissen, dass die Lösung existiert.


< Mechanik     Mathematische Ergänzungen >       R. Dreizler   C. Lüdde     2008