2.2.2 Die lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung

Die Differentialgleichung des harmonischen Oszillatorproblems ist ein Spezialfall einer linearen Differentialgleichung zweiter Ordnung. Die allgemeine Form dieses Typs von Differentialgleichungen lautet


Die Koeffizienten sind beliebige (doch `vernünftige` ) Funktionen von . Man unterscheidet die Fälle Die Bezeichnung linear nimmt Bezug auf die Tatsache, dass die gesuchte Funktion und deren Ableitungen nur in der ersten Potenz auftreten. Diese einfache Tatsache hat weitreichende Konsequenzen, die einen weiten Anwendungsbereich in der Physik erschließen.

Für lineare Differentialgleichungen kann man einige allgemeine Aussagen bereitstellen. Solche Aussagen kann man auch für lineare Differentialgleichungen -ter Ordnung machen, sie werden hier aber nur für Differentialgleichungen zweiter Ordnung ausgeführt. Die erste Aussage lautet:



Kennt man also die allgemeine Lösung der homogenen Differentialgleichung, so ist es nur notwendig, irgendeine (die einfachstmögliche ist ausreichend) Lösung der inhomogenen Differentialgleichung zu bestimmen. Diese kann man oft erraten, es existieren jedoch auch (siehe Math.Kap. 6.2.3 und 6.3.3) explizite Methoden zur Bestimmung solcher Partikulärlösungen. Der Beweis der Aussage ist einfach. Nach der Voraussetzung gilt


Addiert man diese beiden Gleichungen, so gewinnt man die Aussage, dass eine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung ist. Da diese Lösung genau zwei Integrationskonstanten enthält, ist sie die allgemeine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung.

Zur Bestimmung der allgemeinen Lösung der homogenen Differentialgleichung ist das Superpositionsprinzip von Nutzen.



Hier ist zunächst der Begriff der linearen Unabhängigkeit, ein Begriff aus der Linearen Algebra (siehe Math.Kap. 3.2.4), zu klären. Die formale Definition dieses Konzeptes lautet



Diese Definition ist für die Praxis nicht handlich genug, da man alle Werte des Definitionsbereiches durchgehen müsste. Man kann sie etwas abändern, indem man eine zweite Gleichung hinzunimmt, die man aus der obigen durch Differentiation gewinnt


Beide Gleichungen zusammen stellen ein einfaches, lineares Gleichungssystem dar, in dem die Größen als Unbekannte und die Funktionen von als Koeffizienten auftreten. Dieses Gleichungssystem hat dann und nur dann die Lösung , falls die Koeffizientenfunktionen die Bedingung erfüllen


Diese Kombination der beiden Funktionen (man spricht dann auch von Fundamentallösungen) und ihrer Ableitungen bezeichnet man als Wronskideterminante [*]


Die Beweise der Aussage zu der Lösung des Gleichungssystems und des Superpositionsprinzips sind wiederum recht einfach. Zur Lösung des Gleichungssystems multipliziert man die erste der beiden Gleichungen mit (bzw. ) und die zweite mit (bzw. ). Subtraktion ergibt dann


Daraus folgt, dass und nur gleich Null sein können, falls die Wronskideterminante nicht verschwindet. Zur Begründung des Superpsitionsprinzips schreibt man gemäß der Voraussetzung



multipliziert die erste Gleichung mit , die zweite mit , addiert und erhält die Aussage, dass (mit zwei Integrationskonstanten) eine allgemeine Lösung der homogenen Differentialgleichung ist.

Die Bedeutung des Superpositionsprinzips ist weitreichend. So sind alle Wellengleichungen der Physik lineare Differentialgleichung (wenn auch partielle). Daraus folgt, dass man im obigen Sinne Lösungen superponieren, in der realen Welt also Wellen überlagern kann. Interferenzerscheinungen sind in dieser Weise mathematisch fassbar. Man kann aus dem Superpositionsprinzip aber auch rechentechnisches Kapital schlagen. Für einfache lineare Differentialgleichungen zweiter (und auch höherer) Ordnung ist es unter Umständen möglich, die Partikulärlösungen zu erraten und somit die allgemeine Lösung der homogenen Differentialgleichung zu gewinnen. In weniger durchsichtigen Fällen kann man auf Methoden zurückgreifen (siehe Math.Kap. 6), die die Bestimmung von Partikulärlösungen in recht einfacher Weise ermöglichen.

Dass einfacher nicht einfach bedeutet, ergibt sich, wenn man versucht, lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung zu lösen. Selbst einfache Koeffizientenfunktionen führen auf die sogenannten `höheren Funktionen der mathematischen Physik` (siehe Band 2). Der Lösungsweg ist jedoch einfach, falls die Koeffizientenfunktionen nicht von der unabhängigen Variablen abhängen. Für diese lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung mit konstanten Koeffizienten (wieder wäre eine Ausweitung der Diskussion auf Differentialgleichungen -ter Ordnung möglich)


kann man zwei Fundamentallösungen nach dem folgenden Muster bestimmen: Einige Übungsbeispiele sollen das Verfahren untermauern.
1.
Die Differentialgleichung hat die Lösung .
2.
Bei der Lösung der Differentialgleichung treten die komplexen Wurzeln (siehe Math.Kap. 7 für einige Details zu dem Thema komplexe Zahlen und Funktionen)


auf. Die Wurzeln sind zueinander konjugiert . Dies garantiert, dass die Kombinationen und reell sind. Die allgemeine Lösung ist also


Es mag erstaunen, dass eine Differentialgleichung mit reellen Koeffizienten auf komplexe Lösungsfunktionen führt. Man kann jedoch die Lösung mittels der Relation


in reeller Form angeben. Damit folgt


mit . Die beiden trigonometrischen Funktionen sind ebenfalls linear unabhängig, denn es ist . Eine dritte Variante für die Lösung ist


mit


und der Umkehrung


Es spielt im Endeffekt keine Rolle, welche der drei möglichen Formen man benutzt. Die Form mit den komplexen Exponentialfunktionen ist unter Umständen nützlich, da diese Funktionen einfacher zu handhaben sind (z.B. einfachere Additionstheoreme für die Exponentialfunktion im Vergleich zu den trigonometrischen Funktionen). Bei einem Anfangswertproblem garantiert die Vorgabe von reellen Anfangswerten eine reelle Lösungsfunktion. So erhält man mit den Anfangsbedingungen , für jede der drei Varianten die reelle Lösung .
3.
Die Differentialgleichung führt auf eine Doppelwurzel und somit auf die allgemeine Lösung .
4.
Die Differentialgleichung des harmonischen Oszillators kann nach dem gleichen Muster gelöst werden. Die allgemeine Lösung kann, je nach Bedarf, in den Varianten


angegeben werden.

Zum Abschluss dieses Abschnitts soll noch eine inhomogene, lineare Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten betrachtet werden. Eine Differentialgleichung der Form


beschreibt eine (spezielle) erzwungene Schwingung (siehe Buch.Kap. 4.2.3). Um die allgemeine Lösung dieser Differentialgleichung anzugeben, benötigt man, neben der allgemeinen Lösung der homogenen Oszillatorgleichung, eine Partikulärlösung der inhomogenen Differentialgleichung. Da die trigonometrischen Funktionen bei Differentiation ineinander übergehen, genügt hier der Ansatz . Setzt man dies in die Differentialgleichung ein, so kann man über die Konstante zu bestimmen (vorausgesetzt ). Die allgemeine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung lautet z.B.


Für die Anfangsbedingungen findet man durch Lösung des entsprechenden linearen Gleichungssystems für die Integrationskonstanten die spezielle Lösung


Für entfällt der inhomogene Term und die Lösung geht in die Lösung der homogenen Oszillatorgleichung bei gleichen Anfangsbedingungen über.


< Mechanik     Mathematische Ergänzungen >       R. Dreizler   C. Lüdde     2008