6.1 Weitere Orientierung
Die allgemeine Form einer gewöhnlichen Differentialgleichung für eine Funktion einer
Variablen
kann man durch eine implizite Gleichung zum Ausdruck
bringen
Für die Lösung (Integration) der Differentialgleichung bestehen die folgenden Optionen:
- Sucht man irgendeine Funktion, die die Differentialgleichung erfüllt, so
spricht man von einer speziellen oder Partikulärlösung.
- In der Physik sucht man im Normalfall nach einer Lösung der Differentialgleichung,
die zusätzliche Bedingungen erfüllt (Funktionswerte oder Ableitungen
sind für bestimmte
-Werte vorgegeben). Je nach Situation liegt
eine Anfangswertaufgabe, eine Randwertaufgabe oder eine Anfangs-Randwertaufgabe vor.
- Die allgemeine Lösung der Differentialgleichung ist die allgemeinst mögliche
Funktion, die die Differentialgleichung erfüllt. Wie in Math.Kap. 2.1angedeutet, enthält
die allgemeine Lösung einer Differentialgleichung
-ter Ordnung
Integrationskonstanten.
Offensichtlich erlaubt die Kenntnis der allgemeinen Lösung die Beantwortung
der in der zweiten Option angesprochenen Aufgaben.
Einige weitere, willkürlich gewählte Beispiele sollen die Vielfalt der
Möglichkeiten noch einmal unterstreichen
- Die Differentialgleichung der Exponentialfunktion
, mit einer vorgegebenen
Konstanten
.
- Die allgemeine Oszillatorgleichung
, mit den
Konstanten
und einer vorgegebenen Funktion
.
- Die Differentialgleichung der konfluenten, hypergeometrischen Funktion
, mit Konstanten
.
Diese Funktion ist eine der speziellen (d.h. nichtelementaren)
Funktionen der mathematischen Physik (siehe Math.Kap. 6.3.3 für einige Bemerkungen
zu dem Thema spezielle Funktionen).
- Die Differentialgleichung eines belasteten Balkens
, wobei die Funktion
die
variable Belastung in der Horizontalen (Variable
) und
die
Durchbiegung beschreibt.
- Ein Phantasieprodukt
,
- sowie ein weiteres
.
Zur Grobklassifikation kann man unter Umständen neben dem Begriff der
Ordnung einer Differentialgleichung (siehe Math.Kap. 2.1) den Begriff Grad
einer Differentialgleichung benutzen, und zwar dann, wenn die Differentialgleichung als Polynom in den
Ableitungen geschrieben werden kann. Die Potenz der höchsten,
auftretenden Ableitung bezeichnet man als den Grad der Differentialgleichung. Die
Standardform einer Differentialgleichung, die durch Angabe eines Grades charakterisiert
werden kann, ist
Dies ist eine Differentialgleichung n-ter Ordnung und
-ten Grades. Für die oben
aufgeführten Differentialgleichungen lautet die Grobklassifikation
Der einzige Punkt, der eventuell zu kommentieren ist, ist die Gradangabe
für das Beispiel
. Durch Logarithmieren kann man diese Differentialgleichung in
umschreiben.
Hängt die zu bestimmende Funktion von mehreren Variablen ab
so liegt eine partielle Differentialgleichung vor. Die allgemeine implizite Form
enthält die Variablen, die Funktion und deren partielle Ableitungen
Die Aufgabe ist auch hier die Bestimmung der Funktion
aufgrund der
vorgegebenen Differentialgleichung. Die Ausführung dieser Aufgabe ist im Allgemeinen
schwieriger als die Lösung von gewöhnlichen Differentialgleichungen. Doch muss man
feststellen, dass viele der grundlegenden Differentialgleichungen der theoretischen Physik
(Maxwellgleichungen, Schrödingergleichung, )
partielle Differentialgleichungen sind. Zwei Beispiele aus der Mechanik sind die Wellengleichung
(siehe Buch.Kap. 6.1) und die Poissongleichung der Potentialtheorie
Die Aufgabe, die mit der Poissongleichung gestellt wird, lautet: Bestimme die
Potentialfunktion
einer vorgegebenen Massenverteilung,
die durch die Dichtefunktion
charakterisiert wird.
Die Diskussion der Lösung von partiellen Differentialgleichungen wird in Band 2
aufgegriffen.
Weitere Varianten unter dem Stichwort Differentialgleichungen, die in der mathematischen Physik
eine Rolle spielen, sind:
- Systeme von Differentialgleichungen
Ein Satz von Funktionen von einer
Veränderlichen
kann durch einen
Satz von Differentialgleichungen charakterisiert werden
im Allgemeinen mit
. Ein relevantes Beispiel sind Newton's Bewegungsgleichungen
für einen Massenpunkt in der dreidimensionalen Welt
mit der vektoriellen Abkürzung
Eine Aussage, die mit Nutzen bei Beweisführungen und bei numerischen Anwendungen
angewandt werden kann, ist: Eine Differentialgleichung n-ter Ordnung kann immer in einen Satz
von n Differentialgleichungen erster Ordnung umgeschrieben werden und umgekehrt. So kann man
z.B. aus der Differentialgleichung zweiter Ordnung
mit den Ersetzungen
und
das Differentialgleichungsystem erster Ordnung
gewinnen.
- Integralgleichungen
Ein typisches Beispiel für eine Integralgleichung ist
Die Funktion
und der `Integralkern`
sind vorgegeben,
zu bestimmen ist die Funktion
, die auch unter dem Integralzeichen
auftritt. In Analogie zu der Verwandtschaft von Differentiation und
Integration besteht ein entsprechender Zusammenhang zwischen Differentialgleichungen und
Integralgleichungen, der sowohl formale als auch praktische Bedeutung
hat.
- Integrodifferentialgleichungen
sind dadurch charakterisiert, dass
in einer Integralgleichung neben der gesuchten Funktion auch deren Ableitungen
auftritt. Die Ableitungen können sowohl auf der linken Seite als auch unter
dem Integralzeichen stehen, wie in dem folgenden Beispiel
angedeutet wird.
- Eine letzte Variante sind
Differenzen-Differentialgleichungen, die anhand
eines konkreten Beispiels vorgestellt werden sollen. Die Differentialgleichung
der Exponentialfunktion
beschreibt ein besonderes Wachstums- oder Zerfallsgesetz. Die Aussage,
die dieses spezielle Gesetz charakterisiert, lautet: Die Änderung der
Größe
ist proportional zu der Größe zu dem Zeitpunkt
.
Betrachtet man jedoch die Differentialgleichung
so findet man eine grundverschiedene Lösungsstruktur
vor. Die relativ einfache Variation: Die zeitliche Änderung von
ist proportional zu der Größe zu einem früheren oder späteren
(für positives
) Zeitpunkt, führt zu einer veränderten
Situation. Derartige Zeitverzögerungseffekte spielen bei der
Diskussion von Regelproblemen und Rückkopplungssystemen eine
wesentliche Rolle.
Die weitere Diskussion in diesem Kapitel wird sich jedoch auf die Frage
der Lösung von gewöhnlichen Differentialgleichungen
konzentrieren.
< Mechanik Mathematische Ergänzungen > R. Dreizler C. Lüdde 2008