6.2.2 Die totale Differentialgleichung
Die Differentialgleichung
ist eine totale (exakte) Differentialgleichung, falls der Ausdruck das totale Differential
einer impliziten Funktion von zwei Veränderlichen
ist. Die Frage, wie
erkennt man, ob eine totale Differentialgleichung vorliegt, und die Frage, wie gewinnt man
eine allgemeine Lösung, wird durch die in Math.Kap. 4.2.4
bereitgestellten Aussagen beantwortet. Die Aussagen, die hier benötigt
werden, sollen noch einmal zusammengestellt werden. Für eine explizite Funktion
von zwei Veränderlichen
, die in einem Gebiet
zweimal stetig
differenzierbar
ist, gilt:
-
Das totale Differential der Funktion ist
- Die gemischt partiellen Ableitungen zweiter Ordnung stimmen überein
(Satz von Schwarz)
-
Das Kurvenintegral
entlang einer Kurve K, die die Punkte
und
verbindet, ist wegunabhängig.
- Die implizite Funktion
beschreibt die Höhenlinien der Funktion
in der
-
Ebene. Für diese Funktion gilt
Der Zuwachs der Funktion
entlang einer Höhenlinie ist Null.
Die obige Definition einer totalen Differentialgleichung impliziert, dass die
Koeffizientenfunktionen der Differentialgleichung partielle Ableitungen einer Funktion
sind
und dass somit die implizite Funktion
die allgemeine Lösung ist.
Die Bedingung (Integrabilitätsbedingung)
ist eine hinreichende und notwendige Bedingung für das Vorliegen
einer totalen Differentialgleichung.
Zur Bestimmung der Lösung der exakten Differentialgleichung benutzt man
Kurvenintegration
Da das Kurvenintegral (unter den erwähnten Voraussetzungen)
wegunabhängig ist, kann man möglichst einfache Wege wählen.
Gemäß Abb. 6.1 gilt für die untere achsenparallele
Zerlegung
wobei der erste Weg bei festem
parallel zur
-Achse, der
zweite bei festem t parallel zur
-Achse verläuft. Alternativ kann
man den oberen Weg mit
mit einer
-Integration bei festem
und einer
-Integration
bei festem
, wählen. Der Ausgangspunkt
kann frei
gewählt werden. Ein Wechsel des Ausgangspunktes entspricht einer
Umbenennung der Integrationskonstanten.
Abbildung 6.1:
Kurvenintegration
 |
Die Durchführung des Lösungsprozesses ist im Allgemeinen einfacher als die
obige Beschreibung vermuten lässt. Dies soll an zwei Beispielen illustriert
werden.
Die Differentialgleichung des ersten Beispiels ist
Der erste Schritt ist die Überprüfung der Frage, ob eine exakte Differentialgleichung vorliegt,
mittels der Integrabilitätsbedingung. Diese ist erfüllt, denn man findet
. Der zweite Schritt ist die Durchführung der Kurvenintegration.
Zur Übung sollen für dieses Beispiel einige Varianten im Detail durchgespielt
werden.
Der erste Weg (Abb. 6.2) beginnt im Koordinatenursprung (oft eine gute Wahl des
Anfangspunktes), verläuft zunächst entlang der
-Achse bis zu
dem Punkt
und dann parallel zur
-Achse. Das entsprechende Integral
ergibt die implizite Lösung
Abbildung 6.2:
Variation der Integrationswege:
 |
Der zweite Weg (Abb. 6.3a) verläuft vom Ursprung entlang der
-Achse bis zu
dem Punkt
und dann parallel zur
-Achse bis zu dem Punkt
.
Hier findet man
mit der gleichen Lösung wie zuvor.
In der dritten Variante wird ein ähnlicher Weg benutzt wie im ersten
Fall, nur beginnt dieser Weg an der Stelle
. Der Weg in Abb. 6.3b
verbindet dann die Punkte
,
und
mit achsenparallelen
Geraden. In diesem Fall ist das Integral
zu berechnen. Das Ergebnis
geht mit der Umbenennung
ebenfalls in das vorherige
über.
Abbildung 6.3:
Variation der Integrationswege
 |
In dem zweiten Beispiel mit der Differentialgleichung
kann man praktisch ohne Rechnung erkennen, dass die Integrabilitätsbedingung
erfüllt ist. Auch die Lösung kann man hier erraten
(eine durchaus akzeptable Methode). Die Frage nach der
Funktion
, deren partielle Ableitungen
und
sind, kann offensichtlich mit
beantwortet werden.
Falls man die Lösung errät, ist eine Probe angemessen. In dem vorliegenden Beispiel
lautet die explizite Form der Differentialgleichung
. Berechnet man die
Ableitung der Lösung
, so findet man in der Tat
Noch anzumerken ist, dass Differentialgleichungen der Form
die mittels Variablentrennung gelöst werden, ein Spezialfall der
exakten Differentialgleichung darstellen. Es gilt trivialerweise
.
Nicht jede Differentialgleichung des angeprochenen Typs ist
exakt. Es gilt jedoch die Aussage: Jede Differentialgleichung dieses Typs kann (im Prinzip)
in eine exakte Differentialgleichung übergeführt werden. Diese Aussage basiert auf dem
Stichwort integrierender Faktor.
< Mechanik Mathematische Ergänzungen > R. Dreizler C. Lüdde 2008