5.3.2 Oberflächenintegrale mit Vektorfunktionen

Die Integrale, die hier zur Diskussion stehen, können folgendermaßen charakterisiert werden. Gegeben ist ein beliebiges Flächenstück im Raum und eine Vektorfunktion , die in einem Gebiet definiert ist, das die Fläche einschließt (Abb. 5.8b). Die Fläche wird in infinitesimale Flächenelemente unterteilt, für die sowohl eine Größe als auch eine Orientierung angegeben wird. Die infinitesimalen Flächenelemente werden also durch einen Vektor beschrieben.

Abbildung 5.7: Zur Definition des Oberflächenintegrals

Die Länge des Vektors ist ein Maß für die Größe des infinitesimalen Flächenelementes. Der Vektor markiert die Orientierung, wenn er senkrecht auf den Flächenelementen steht (Details bezüglich der Orientierung folgen sofort). Für jedes infinitesimale Flächenelement bildet man das Skalarprodukt und addiert (im Sinne der üblichen Grenzwertbetrachtung) alle diese Beiträge. Das Ergebnis ist das Oberflächenintegral (Abb. 5.7)


Zunächst muss die Frage der Unterteilung bzw. der Orientierung etwas genauer diskutiert werden. Zu diesem Zweck betrachtet man eine Kugelfläche mit Radius . Für die Standardaufteilung der Oberfläche benutzt man ein Gradnetz, das heißt Kugelkoordinaten (Abb. 5.8a). Ein infinitesimales Flächenelement ist dann



Abbildung 5.8: Oberflächenintegrale auf Kugelflächen

Für die Richtungsangabe benutzt man die Normalenrichtung nach außen. Es ist also


Diese Festlegung verbirgt keine Tiefsinnigkeit. Die Richtungsangabe `nach innen` wäre genauso akzeptabel. Hat man ein offenes Flächenstück (z.B. eine Kugelschale oder ein ebenes Flächenstück im Raum), so kann man nicht unbedingt zwischen Innen- und Außenfläche unterscheiden. In diesem Fall benutzt man die folgende Festlegung der Orientierung: Man gebe eine Orientierung der Randkurve vor, indem man sie in einem bestimmten Sinn durchläuft. Die Orientierung der Randkurve und der Zerlegungssatz für Kurven bestimmen dann die Orientierung der Randkurve eines infinitesimalen Flächenelementes.

Abbildung 5.9: Zerlegung einer Raumfläche

Die Richtung von entspricht der Flächennormalen, die sich aus dem Umlaufsinn gemäß der Rechten-Hand-Regel (oder Schraubenregel) ergibt (Abb. 5.9). Nicht alle Raumflächen sind in dieser Weise orientierbar, ein Paradebeispiel ist das Band von Möbius.

Für einfache Situationen kann man das Oberflächenintegral anhand dieser anschaulichen Definition direkt berechnen. So erhält man z.B. für eine Kugelfläche um den Koordinatenursprung und ein Zentralfeld das Oberflächenintegral



Insbesondere für erhält man


die Oberfläche der Kugel. Man erkennt hier eine Anwendungsmöglichkeit von Oberflächenintegralen. Fährt man die Oberfläche mit einem geeigneten Vektorfeld ab (Einheitsvektor in Normalenrichtung), so wird die gekrümmte Fläche sozusagen geglättet und maßstabsgetreu vermessen.

Die Auswertung von Oberflächenintegralen wird etwas komplizierter, wenn das Vektorfeld keine Zentralsymmetrie besitzt, selbst wenn die Fläche, über die integriert wird, Kugelgestalt hat. Man benötigt in diesem Fall zuerst eine Zerlegung von in kartesische Komponenten


so dass das Oberflächenintegral einer Vektorfunktion



ist. Es sind im Allgemeinen drei Doppelintegrale auszuwerten. So erhält man z.B. für die Vektorfelder (Abb. 5.10a, b):


bei Integration über eine Halbkugel folgende Integrale




Abbildung 5.10: Details zur Berechnung von Oberflächenintegralen auf Halbkugeln

In dem zweiten Beispiel tragen gegenüberliegende Flächenelemente auf der einen Seite mit dem Winkel , auf der anderen mit


bei, so dass sich die Beiträge von der vorderen (positiven -Richtung) und der hinteren Viertelkugel kompensieren.

Für die Diskussion von allgemeineren Situationen ist es notwendig, die anschauliche Definition in eine explizite Berechnungsvorschrift umzusetzen. Eine beliebige offene Fläche mit orientiertem Rand


Abbildung 5.11: Projektion einer Raumfläche auf die Koordinatenebenen

kann auf die drei Koordinatenebenen projiziert werden. Die Bereiche, die man auf diese Weise erhält, indiziert man durch die zyklische Ergänzung, so ist z.B. die Projektion auf die - Ebene. Die Orientierung der Randkurve von überträgt sich als Orientierung der Ränder der Projektionen (Abb. 5.11). Die Projektion eines infinitesimalen Flächenelementes ergibt entsprechend drei schiefwinklige Flächenstücke in den Koordinatenebenen (Abb. 5.12).

Abbildung 5.12: Details zu der Projektion einer Raumfläche auf die Koordinatenebenen

Diese Projektion entspricht genau der Komponentenzerlegung des Vektors in seine kartesischen Komponenten


Die Zerlegung des gesamten Integrals lautet somit


Ein Oberflächenintegral mit einer Vektorfunktion über eine gekrümmte Fläche im Raum lässt sich in drei Bereichsintegrale (siehe Math.Kap. 4.2.3) über ebene Bereiche in den Koordinatenebenen zerlegen. Die Bereichsintegrale selbst kann man (Beschränktheit des Integranden vorausgesetzt) in beliebiger Weise zerlegen. Anstelle der schiefwinkligen Aufteilung, die sich durch die Projektion ergibt, kann man auch eine Rechteckzerlegung wählen


so dass man zunächst die Zerlegung erhält



Es sind jedoch zwei weitere Punkte zu beachten:

1. In dem Integral über sind die Integrationsvariablen und . Die Punkte liegen auf der Fläche . Aus diesem Grund ist keine unabhängige Variable, sondern eine Funktion von und . Ist die Fläche durch eine implizite Gleichung


charakterisiert, so ergibt sich durch Auflösung nach


Entsprechendes gilt für die zwei anderen Bereichsintegrale. Die vollständige Form des Oberflächenintegral in kartesischer Zerlegung lautet somit



Mit diesem Ausdruck hat man die Berechnung des Oberflächenintegrals einer Vektorfunktion über eine beliebige Fläche im Raum vollständig auf die Berechnung von Bereichsintegralen (von Funktionen von zwei Veränderlichen) zurückgeführt, doch treten bei dieser Form in der Anwendung immer noch kleine Schwierigkeiten auf.

2. Die Projektion auf die Koordinatenebenen kann zu einer Doppelbelegung führen. Projiziert man z.B. eine Halbkugel (mit ) auf die - Ebene, so ist das Bild jeder Viertelkugel in dieser Ebene jeweils eine halbe Kreisfläche. Nur wenn man die Orientierung der Viertelkugeln berücksichtigt, kann man die Belegungen unterscheiden (Abb. 5.13).


Abbildung 5.13: Zur Frage der Doppelbelegung

Es ist


für die vordere bzw. die hintere Halbkugel. Jedes der drei Bereichsintegrale ist somit unter Umständen noch einmal gemäß der Doppelbelegung aufzuspalten, wobei dann noch die entsprechende Form von zu wählen ist.

Für das Beispiel: mit der Integration über eine Halbkugel erhält man nach dem obigen Argument



Für das Beispiel ist der Integrand für beide Halbkugeln


Aus diesem Grund ergibt sich (wie zuvor berechnet)


Um das Problem der Doppelbelegung und der anschließenden Detaildiskussion zu vermeiden, ist es nützlich die Bereichsintegrale nicht in kartesischer Zerlegung, sondern in angepassten Koordinaten zu berechnen. Man benutzt dazu die Möglichkeit, die Fläche durch eine Parameterdarstellung zu beschreiben.



Durch Anwendung der Substitutionsregel für jedes der Bereichsintegrale erhält man dann



Integriert wird über das Bild von , das sich anhand der Substitution ergibt. Zu beachten ist auch der folgende Punkt: Die Funktionaldeterminanten treten ohne Absolutbetrag auf. Die Reihenfolge der Koordinaten ist zyklisch. Auf diese Weise werden (bis auf ein Gesamtvorzeichen, das sich aus der Reihenfolge der Koordinaten , ergibt) die Orientierung und Belegungsfragen automatisch sortiert. Diese endgültige Form zeigt an, dass das Oberflächenintegral (mit zwei Integrationsvariablen) eine konsequente Erweiterung des Kurvenintegrals (mit einer Integrationsvariablen) ist.

Zur Illustration kann man noch einmal die zwei Beispiele betrachten, für die das Integral


zu berechnen ist. Die relevante Funktionaldeterminante ist


Setzt man die Parameterdarstellung und die Funktionaldeterminante ein, so findet man



bzw.



Das Bild der Halbkugel ist ein Rechteck. Die Integrale sind die gleichen, die bei der elementaren Betrachtung auftraten.

Die Auswertung über die Parameterdarstellung bietet einen gewissen Automatismus, der sich auch in komplizierteren Fällen anwenden lässt. In dem nächsten Abschnitt wird jedoch eine alternative Methode vorgestellt, die in vielen Fällen wesentlich effizienter ist.


< Mechanik     Mathematische Ergänzungen >       R. Dreizler   C. Lüdde     2008