1.2.6 Differenzierbare Funktionen

Die Festlegung dieses Begriffes ist nunmehr einfacher, da es ebenfalls die Diskussion von Grenzwerten betrifft. Die formale Definition lautet



In Worten bedeutet dies, dass eine Funktion an der Stelle differenzierbar ist, wenn ein eindeutiger Differentialquotient gebildet werden kann. In ganz anschaulicher Weise könnte man auch sagen: Wenn man an der Stelle eine eindeutige Tangente an die Kurve, die die Funktion darstellt, zeichnen kann.

Eine Funktion kann stetig sein, muss aber nicht notwendigerweise differenzierbar sein. Zur Erläuterung dieser Aussage genügt ein Beispiel. Die oben definierte Funktion


ist an der Stelle stetig. Die Ableitungen für die beiden Funktionsäste sind


In dem Punkt ist (wie man auch ohne Rechnung der graphischen Darstellung (Abb. 1.11) entnimmt) die Ableitung nicht eindeutig.


Abbildung 1.11: Eine stetige, an der Stelle nicht differenzierbare Funktion

Die Umkehrung der obigen Aussage lautet jedoch: Ist eine Funktion an einer Stelle differenzierbar, so ist sie an dieser Stelle auch stetig. Der Grund ist: Bei der Bildung des Grenzwertes des Differenzenquotienten setzt man voraus, dass


ist, d.h. dass Grenzwert und Funktionswert übereinstimmen. Wäre dies nicht der Fall, so wäre der Differentialquotient nicht definiert.

Eine mögliche Klassifikation von Funktionen kann man demnach folgendermaßen zum Ausdruck bringen: Die stetigen Funktionen sind eine Untermenge aller möglichen Funktionen. Differenzierbare Funktionen sind eine Untermenge der stetigen Funktionen.

Der Bezug zu den kinematischen Fragestellungen, die in Buch.Kap. 2 diskutiert werden, ist offensichtlich: Funktionen, die die Position und die Geschwindigkeit eines Massenpunktes beschreiben sollen, müssen differenzierbar sein. Man wäre sonst nicht in der Lage, eine Beschleunigung zu definieren. Funktionen, die die Beschleunigung darstellen, müssen wenigstens stetig sein. Sollten trotz dieser Aussage unstetige Funktionen zur Charakterisierung der Beschleunigung herangezogen werden, ist dies immer eine Idealisierung. Wenn man zum Beispiel einen Massenpunkt für eine bestimmte Zeit einer konstanten Beschleunigung aussetzt, nach dem Zeitpunkt die Beschleunigung in irgendeiner Form recht plötzlich abschaltet, so würde der Abschaltprozess, unabhängig von Details (wie in Abb. 1.12a angedeutet), durch eine stetige Funktion beschrieben.


Abbildung 1.12: Abschaltprozesse

In vielen Fällen ist es jedoch (rechentechnisch) einfacher und keine schlechte Näherung an die Realität, einen schnellen Abschaltprozess durch eine Sprungfunktion zu beschreiben (Abb. 1.12b).


< Mechanik     Mathematische Ergänzungen >       R. Dreizler   C. Lüdde     2008